Hungerlöhne am Rande Europas (CCC-Broschüre)

Boulevard Stefan Cel Mare, früher bekannt als Leninallee, bildet das repräsentative Zentrum von Chisinau, Hauptstadt der Republik Moldau. Zwischen den Regierungsgebäuden im Norden und den Hoteltürmen am südlichen Ende der Straße drängen sich alle wichtigen Institutionen, Geschäftsvertretungen und Boutiquen namhafter Marken wie Boss, Adidas, Puma. Wer was werden will bzw. am mageren Ertrag der Republik moldauischen Wirtschaft teilhaben möchte, besorgt sich hier eine Geschäftsadresse.

Eben noch zusammengedrückt und gebückt in den „Mikrobussen”, die sie aus den Stadtteilen Botanica oder Volcan ins Zentrum brachten, nun der Enge entronnen, entfalten Frauen, Angestellte und Studentinnen auffällige Eleganz. Weit verbreitet die schwarze Jacke aus weichem glatten Rindsleder, gediegenes Top oder weiße Geschäftsbluse, dazu Stretch-Jeans oder Polyesterhosen, die an den Hüften äußerst knapp, dank großzügiger Stoffzugabe entlang eines geraden Schnittes die Beine dennoch recht formell kleiden. Sieben Prozent ihres Einkommens geben Leute in der Republik Moldau durchschnittlich für Kleidung aus – in der BRD sind es derzeit sechs Prozent.

Als traditioneller Bekleidungsstandort versorgte die ehemalige Sowjetrepublik Moldawien einen Teil des Bekleidungsmarktes der Sowjetunion. Mit Zusammenbruch des RGW am Anfang der Transformationszeit standen die Nähmaschinen still. Zwei Ecken östlich vom Boulevard Stefan Cel Mare rattert es wieder: bei Ionel und Steaua Reds, dem ehemals staatlichen und nun in kleine Betriebe geteilten Textilkombinat. Diese wurden in einzelne Firmen unterteilt und teilprivatisiert. Dazu kamen neue Unternehmen mit italienischem, türkischem oder deutschem Kapital. Heute produzieren ungefähr 50 Unternehmen im Textilsektor1. Die 18 großen und mittleren Unternehmen, vornehmlich Aktiengesellschaften, stellen Hosen, Damenkleidung, Strickwaren und Lederwaren her. Hauptsächlich für Italien, doch auch für Deutschland und Großbritannien.

Moldawien ist das ärmste Land Europas. Das Durchschnittseinkommen beträgt hier 300 Euro. Jahres-, nicht Monatseinkommen. Überleben ist mit einem solchen Einkommen auch in Moldawien nicht möglich. So war im Jahre 1999 der Mindestwarenkorb fast dreimal so hoch wie das Durchschnittseinkommen. Doch wie überleben die Menschen? Viele MoldawierInnen haben Verwandte auf dem Land, welche ihnen mit selbst Angebautem aushelfen können. Außerdem hat die stolze Zahl von 800.000 MoldawierInnen in den letzten zehn Jahren Moldawien vor allem Richtung westeuropäisches Ausland verlassen und trägt mit dem dort erwirtschafteten Geld zu der Versorgung ihrer moldauischen Familien bei.

Die Produktion brach zusammen und die Inflation stieg rasant 1994 bis auf 116%. Die meisten früher staatseigenen Firmen mussten schließen. Aber das war noch nicht alles. Die nächste Krise kam 1998, als der russische Markt einbrach – der einzige Markt, für den Moldawien nach dem Zusammenbruch des RGW produzierte. Das BIP des Landes sank weiter und Moldawien stand am Rande des Bankrotts. Die Beinahe-Zahlungsunfähigkeit zog in seiner Folge eine weitgehende Abhängigkeit von internationalen Geldgebern wie dem Internationaler Währungsfonds nach sich. „Eine beispiellose fiskalische Strukturanpassung und restriktive Geldpolitik sollte den externen Schock abfangen“schreibt der IWF in seiner Studie Republic of Moldova: Recent Economic Developments.

Dies bedeutete hauptsächlich die Kürzung öffentlicher, vor allem sozialer Ausgaben, „um die Ineffizienz der Sozialwirtschaft zu reduzieren” wie es der IWF nennt. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich die ganze Palette sozialer Einschnitte: 60 Krankenhäuser wurden geschlossen, die Ausgaben für Bildung und Gesundheit 1999 um ein Drittel gekürzt, Schulgebühren eingeführt, 10 Prozent der beim Staat Angestellten entlassen.

Obwohl sich Moldawien seit 2000 langsam wirtschaftlich erholt, hat die Wirtschaft ihr Niveau von 1990 immer noch nicht erreicht.

 

Die Bekleidungsindustrie Moldawiens

Die Bekleidungsindustrie Moldawiens ist nach der Weinproduktion die zweitwichtigste Exportindustrie des Landes. Der Hauptabnehmer ist Italien, das 39% der Exporte kauft, gefolgt von Deutschland mit 32% und den USA mit 16%. Verglichen mit dem benachbarten Rumänien hat Moldawien einen kleinen, aber zunehmenden Anteil am europäischen Bekleidungsmarkt.

Bis vor kurzem galt Moldawien noch als Spielwiese besonders risikobereiter Einkäufer. Zwischen Rumänien und der Ukraine am Schwarzen Meer gelegen, war das Land geschichtlich gesehen eine Art Spielball zwischen Orient und Okzident, bis es schließlich der Sowjetunion einverleibt wurde. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus schwankt Moldawien erneut zwischen den Blöcken EU und Russland hin und her. Dass eine der Grenzen von den Nachbarstaaten nicht anerkannt wird und das Land seit 2001 von dem zumindest theoretisch kommunistischen Präsidenten Vladimir Voronin geführt wird, zeugt von andauernder Instabilität. Kein Klima für Auslandsdirektinvestitionen …

Doch Auslandsdirektinvestitionen sind im System der Passiven Lohnveredlung auch gar nicht erforderlich. Obwohl Moldawien nach wie vor als schwieriges Pflaster gesehen wird, kaufen immer mehr Textilagenten und Händler dort ein. Selbstverständlich spielen die geringen Arbeitskosten eine Rolle: lt. IMF sind die Arbeitskosten in Moldawien niedriger als in China.

 

Armut ausnützen

Im Unterschied zu den anderen Länderstudien in dieser Publikation gab es in der Republik Moldawien keine systematische Recherche, eher anekdotische Befunde. Wenn Sie moldauische NäherInnen nach ihren Arbeitsbedingungen fragen, werden Sie spontan von den extrem niedrigen Löhnen erfahren. Im Februar 2004 lag der gesetzliche Mindestlohn bei 26 € im Monat.

Für Vsevolod Barbaneagra von der Gewerkschaft „Confederatia Sindicatelor din Republica Moldova” (CSRM), welche seit 1997 Mitglied des IBFG in Brüssel ist, stellt sich die Lohnsituation dramatisch dar: „Die Löhne dürften nicht niedriger sein als das Existenzminimum. Im Moment ist das Durchschnittsgehalt aber 60% vom Existenzminimum.”

Auf dem Land ist Näharbeit teilweise eine Art Saisonarbeit für den Winter. Frauen arbeiten im Sommer auf dem Acker und im Winter verdingen sie sich in einer Fabrik, entweder in den ländlichen Gebieten oder in einer der Städte. Diejenigen, die das ganze Jahr beschäftigt sind, sind in jedem Fall gezwungen, ihren mageren Lohn durch irgendeine Form von Subsistenzlandwirtschaft aufzubessern.

Wir trafen Olga M. im Büro des Vereins „Frauen Moldawiens”. Zu der Zeit, als wir mit ihr sprachen, war sie arbeitslos, hatte aber vorher in der Industrie gearbeitet. So hat sie beschrieben, wie es ist, wenn man in einer Firma in Chisinau arbeitet, die türkisch-moldauisches Eigentum ist: „Sie stellen Unterwäsche für USA und Japan her. Sie machen große Mengen und die Arbeitsbedingungen sind sehr schlecht. Es ist extrem staubig und dreckig. Im Winter kommen die Arbeiterinnen, wenn sie nichts auf dem Feld zu tun haben, im Sommer kündigen sie und gehen nach Hause.” Da das Soll meistens überhöht ist, stehen die ArbeiterInnen immer unter hohem Arbeitsstress.

Die Arbeitsbedingungen sind in den größeren Firmen, die – ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten – einer stärkeren staatli-chen Kontrolle unterliegen, besser. Was jedoch in den kleineren Privatunternehmen vor sich geht, weiß niemand. Noch schlechter wiederum sind die Bedingungen (Löhne, Arbeitsschutz usw.) in ländlichen Regionen.

Firmen, in die Geld aus dem Ausland investiert wurde, sind häufig besser ausgerüstet, nicht nur mit leistungsfähigeren Maschinen, sondern auch mit Klimaanlagen, ergonomischen Stühlen usw. Ludmila Novac, Betriebsärztin einer Fir-ma, die zur Zeit der Recherche Teil der Steilmann Gruppe in Balti ist, ist mit der Modernisierung seit der Übernahme zufrieden: „Der Gesundheitszustand der ArbeiterInnen hat sich etwas verbessert. Aber”, fügt sie hinzu, „die Leute leiden noch immer unter Bronchitis und Hautkrankheiten, die durch mangelhafte Belüftung, besonders im Bügelraum, verursacht werden. Wir behandeln auch Beschwerden, die vom Stehen an der Maschine in immer der gleichen Stellung herrühren”.

 

Kündigung als Protest

Die Unternehmer in der Republik Moldau (wie auch in Rumänien) beklagen sich über mangelnde Personalkontinuität. Dahinter verbirgt sich ein triftiger Grund: Kündigungen sind für die NäherInnen die einzige Form des Widerstandes gegen die schlechten Arbeitsbedingungen, freilich eine sehr defensive Protestform.

Viele ArbeiterInnen sehen ihren Job in der Bekleidungsindustrie nur als temporäre Lösung, bevor sie einen anderen, besseren finden. Viele träumen von gut bezahlter Arbeit in Westeuropa, möglicherweise in Italien oder in Deutschland.

Alexandru Sochirka von der deutsch-österreichischen Kammer in Chisinau macht das Dilemma deutlich: „Es ist ein Problem, dass hier die Löhne so niedrig sind und so viele ArbeiterInnen auswandern. Aber wären die Löhne höher, käme niemand, um zu investieren.”

 

Gewerkschaften in Moldawien

Die moldauische Gewerkschaftslandschaft ist gespalten. Während der Gewerkschaftsverband CSRM vor allem in der Schwerindustrie stark ist, wird die Leichtindustrie, zu der auch die Bekleidungsindustrie gehört, von der Gewerkschaft „Solidaritate” betreut.

Im Unterschied zu CSRM, wo man versuchte, das westliche Modell einer freien Gewerkschaftsbewegung zu reproduzieren, entschied sich Solidaritate für ein Dreiermodell, indem man versucht, zwischen den Interessen der ArbeiterInnen, der Arbeitgeber und der Regierung zu vermitteln. Was für einen westlichen Beobachter merkwürdig erscheinen mag, ist, dass es selbst Firmeninhabern erlaubt ist, Mitglied von Solidaritate zu sein. Alexandra Can, Ge-schäfts- und Gewerkschaftsführerin ihres Betriebes in einer Person, vergleicht ihre Erfahrungen mit Gewerkschaften aus der Zeit des Sozialismus mit der Arbeitsweise von Solidaritate heute: „Wir haben die Beziehung zwischen Administration und Arbeitern klar definiert. Vermittler ist die Gewerkschaft. Sie versteht sehr gut, welche Rechte und welche Pflichten sie hat. Sie beschäftigt sich mit der Organisierung der Leute, sorgt für Disziplin, erklärt, dass nur durch Produzieren das Unternehmen wachsen kann. Das macht sie auch zu Mitgliedern der Administration.” Die Gewerkschaft ist – mit anderen Worten – für Produktionsorganisation und das Sozialleben der ArbeiterInnen verantwortlich und kooperiert eng mit dem Management.

Der CSRM-Verband kritisiert energisch die Privilegien, die Solidaritate von der Regierung zugestanden bekam, während er selbst massiven Repressionen ausgesetzt ist. CSRM-Vizepräsident Vsevolod Barbaneagra berichtet von schweren Angriffen auf seine Gewerkschaft. „Auch versucht die Regierung momentan unsere Mitglieder zur Solidaritate zu lotsen. Das wollen wir verhindern. Gestern schickte der Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) in Brüssel einen Brief an Premierminister Vasile Tarlev, in dem sie uns unterstützt.”

Davon, dass die Interessen der NäherInnen in Moldawien durch die Gewerkschaften effektiv vertreten werden, kann keine Rede sein.

 

Frauen-NGOs

Der Begriff Nichtregierungsorganisation (NGO) ist in Moldawien etwas Neues. Erste zaghafte Gründungsversuche gab es in verschiedenen Bereichen, doch die werden von der Administration kritisch beäugt. Wir trafen Irina Martiniuc von „Frauen Moldawiens” in ihrem Büro, einem Kin-dergartenhinterzimmer etwas außerhalb der Stadt. Dort finden sowohl die Beratung, als auch Seminare zu Arbeitsrechten und Berufsorientierung statt. Hier kommen Frauen hin, die ihren Job verloren haben. Oft seien dies auch Arbeiterinnen der Bekleidungsindustrie. Diese Frauen haben keine Erfahrung beim Verhandeln mit den Arbeitgebern, was häufig zu Problemen mit den Arbeitsverträgen führt. So sagt sie: „In unseren Seminaren analysieren wir Arbeitsverträge. Einige private Textilunternehmen z.B. schreiben sehr schwierige Formulierungen in die Verträge, in denen weitgehende Pflichten verklausuliert sind. Oft verstehen die Frauen die Details nicht. So entwerfen wir Beispielverträge, damit die Frauen die Problematik begreifen.”

 

Zusammenfassung und Ausblick

Die Arbeitsgesetze des Landes entsprechen den meisten IAO-Konventionen und gehen teilweise sogar darüber hinaus. Nur: sie werden in der Regel nicht beachtet. Viele ArbeiterInnen kennen ihre Rechte nicht und sind es auch nicht gewohnt, sie einzufordern. Das liegt vor allem daran, dass kämpferische Gewerkschaften kaum Zugang zur Bekleidungsindustrie haben und dass es noch keine starke unabhängige Frauenbewegung gibt. Unter den wenigen Frauengruppen beschäftigt sich nur eine mit den Bedin-gungen in der Bekleidungsindustrie. Die Schwierigkeit ist, dass die Zivilgesellschaft in Moldawien gerade erst erwacht. Öffentlicher Widerstand und zivilgesellschaftliche Aktionen waren in der Sowjetunion verboten. Eine Kultur, in der eine dynamische Zivilgesellschaft blühen kann, entsteht erst. Sie wird dadurch behindert, dass es an finanziellen Mitteln für Initiativen zu arbeitsweltlichen Problemlagen fehlt.