„Schulbücher alleine reichen nicht aus“

„Erlebte Geschichte“ – Berliner Schüler arbeiten durch Zeitzeugeninterviews NS-Zeit auf

Im Pankower Jugendclub „JUP“ sitzen drei Mädchen konzentriert vor den Computerbildschirmen. Immer wieder sehen sie die Interviews mit zwei alten Damen an, die sie zu thematischen Schnipseln verarbeiten. Doch Videoschnitt lernen die 16- und 17-Jährigen nur nebenbei. Die Mädchen sind die ersten Teilnehmerinnen des Projekts „Erlebte Geschichte – Lebendig gestalten“, das zum Ziel hat, thematisch geordnete Zeitzeugeninterviews auf Video und Audio für ein stetig wachsendes Internetportal zu erarbeiten.

Conny und Maria hören sich gerade an, wie die Pankower Zeitzeugin Inge Lammel ihre Kindheit und Jugend in England beschreibt. Die Mädchen diskutieren, welcher Teil des Interviews unter die Rubrik „Briefwechsel“ fällt. Inge Lammel, damals noch Rackwitz, wurde als jüdisches Kind nach England verschickt und lebte dort bei einer Gastmutter. Ihre Briefe nach Hause wurden nicht mehr zugestellt, nachdem England Deutschland den Krieg erklärt hatte. Inges Eltern wurden im Konzentrationslager ermordet, was sie aber erst nach dem Krieg erfuhr. „Die Kindertransporte wurden von der jüdischen Gemeinde organisiert und anfangs von den Nazis noch geduldet“, weiß Conny zu berichten. „Insgesamt wurden aber nur etwa 10 000 Kinder verschickt, und sie durften nicht älter als 14 sein.“

Wertvolles Material für den Unterricht
Die Mädchen haben das Interview mit Inge Lammel lange vorbereitet, in dem sie sich speziell mit dem Thema der Kindertransporte beschäftigten. Der Drehtermin fand dann in Inge Lammels eigener Wohnung statt. Die Mädchen, die von der Medienpädagogin Andrea Behrendt begleitet wurden, stellten die Fragen und filmten auch selbst. Die Pankower Schülerinnen interviewten ebenfalls die Zeitzeugin Marianne Kaufhold, die im Gegensatz zu Inge Lammel den ganzen Krieg über in Berlin blieb. „In ihrer Erzählung haben mich zum Beispiel die Tricks beeindruckt, wie man den Stern verstecken konnte. Schulkinder haben den Schulranzen vorne getragen“, erzählt Laura, die gerade die Videoaufnahmen von Frau Kaufhold schneidet.
Conny, Maria und Laura haben über die Friedrich-List-Oberschule in Pankow zu dem Zeitzeugenprojekt gefunden. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern hatte bereits im Jahr 2004 ein Hörspiel über das Leben der KZ-Überlebenden Barbara Reimann-Dollwetzel entwickelt. Bei dem Projekt wurden sie von der Globalen Medienwerkstatt unterstützt, die nun das Projekt „Erlebte Geschichte“ ins Leben gerufen hat. „Nach der Hörspielproduktion hatten wir die Idee, Zeitzeugenarbeit auf eine ganz andere Weise zu machen. Es sollten keine einzelne Biografie, sondern einzelne Themen im Mittelpunkt stehen“, erzählt Birgit Marzinka. Es dauerte eine Weile, Bündnispartner zu finden. Beteiligt sind nun die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA), das Videoprojekt kanalB, das Onlineportal shoa.de, die Zeitzeugenbörse und Schule ohne Rassismus.
Im Mai konnte endlich mit der Arbeit begonnen werden. Neben den Videointerviews wird es bald auch erste Audiointerviews geben. Nach und nach sollen die Zeitzeugeninterviews dann das Internetportal füllen. Die Vernetzung zu shoa.de könnte dem Zeitzeugenportal schnell zu großer Verbreitung verhelfen. Shoa.de, das 1996 als studentisches Projekt begann, ist heute die größte deutschsprachige Plattform, die über die Themen Drittes Reich, Antisemitismus und Holocaust informiert. Sie zählt im Monat etwa 150 000 Besucher. Autoren sowie Programmierer arbeiten ehrenamtlich. „Wir haben momentan fast 120 Autoren, vom Universitätsprofessor bis zu Studenten und Schülern“, berichtet Mitinitiator Stefan Mannes. Für „Erlebte Geschichte“ leistet shoa.de Unterstützung bei der Programmierung und Seitengestaltung. Die Interviewteile sollen sowohl thematisch, zeitlich als auch über einzelne Personen erschlossen werden. Für Zufallsbesucher soll es eine Art thematische Einführung geben.
Auf dem Portal „Erlebte Geschichte“ wird es ausschließlich um die Zeit des Nationalsozialismus gehen. „Wir haben uns bewusst auf diese Zeit beschränkt, weil diese Zeitzeugen als nächstes sterben. Unser Ziel ist es, die Zeitgeschichte zu archivieren und der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen“, so Birgit Marzinka. Das archivierte Material biete die Möglichkeit, sich die Erlebnisse einer bestimmten Person anzuhören, wenn diese selbst nicht mehr davon berichten könne. Vor allem könnten die Interviews von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen genutzt werden.
Die Zeitzeugin Inge Lammel war nicht gerade wild darauf, vor der Kamera zu stehen. „Ich habe nie aus eigenem Interesse von mir aus erzählt. Ich bin immer dazu aufgefordert worden.“ Wenn sie von Schulen und anderen Einrichtungen eingeladen wird, berichtet sie jedoch bereitwillig. „Ich finde es sehr wichtig, junge Leute für die Vergangenheit zu sensibilisieren und sie gegen rechte Propaganda immun zu machen“, so die 82-jährige Pankowerin. Vor ihrer Haustür hing vor der jüngsten Berliner Wahl auch ein Plakat der NPD. Mit deren potenziellen Wählern hat sie jedoch bei ihren Vorträgen kaum zu tun, ihr Publikum kommt schließlich von sich aus auf sie zu.
Mit den vier Pankower Schülerinnen, die sie interviewten, zeigt sie sich sehr zufrieden. „Sie haben gute Fragen gestellt. Wenn man kluge Antworten geben will, müssen die Fragen auch intelligent gestellt sein.“ Inge Lammel ist es wichtig, dass die Mädchen den Film an ihrer Schule zeigen. Sie hat es selbst zu ihrer Mission gemacht, Lebensgeschichten von Pankower Jüdinnen und Juden zu sammeln, hat drei Bücher veröffentlicht und Ausstellungen mitgestaltet. „Trockene Schulbücher alleine reichen nicht aus“, ist sie überzeugt, die einzelnen Geschichten der Menschen findet sie viel interessanter. Ihre eigenen Memoiren möchte sie trotzdem nicht schreiben.
Birgit Marzinka sieht das Zeitzeugenprojekt als eine einmalige Möglichkeit für die Jugendlichen, in engen Kontakt mit Holocaust-Überlebenden zu treten. „Die Geschichte ist für sie nicht länger abstrakt, wenn konkrete Menschen dahinter stecken.“ Lebendig wird Geschichte auch dadurch, dass gerade Geschichten aus dem Alltag erzählt werden. Trotz positiver Erfahrungen mit den Beteiligten wünschen sich die Initiatorinnen allerdings noch mehr Beteiligung von Jugendlichen. Birgit Marzinka zeigt sich etwas erstaunt, dass es so schwer ist, die jungen Menschen zu dem Projekt zu animieren. Vielleicht liege es an zu hohem Leistungsdruck in der Schule, vielleicht an einem Überangebot interessanter Aktivitäten in der Stadt.

Bundesweite Ausdehnung in Vorbereitung
Das Zeitzeugenportal soll nicht alleine mit dem Material gefüllt werden, das die Globale Medienwerkstatt in ihren Workshops mit Jugendlichen erstellt. „Unterschiedliche Gruppen sollen die Möglichkeit haben, Zeitzeugeninterviews ins Netz zu stellen“, sagt Andrea Behrendt. Derzeit erstellt die Projektgruppe einen Leitfaden, wie solche Interviews am besten durchzuführen sind. Außerdem organisiert sie Multiplikatorenworkshops. An zwei Wochenenden im Herbst werden Grundlagen der Geschichte aufgefrischt, die Grundzüge der „Oral History“ – der mündlich überlieferten Geschichte, Interviewführung sowie die technischen Voraussetzungen für Aufnahme und Video- und Audioschnitt vermittelt. Die Multiplikatorinnen werden selbst den gesamten Prozess durchlaufen, den sie später in eigenen Workshops vermitteln. Teure Schnitttechnik ist dafür nicht notwendig. „Wir arbeiten möglichst mit frei verfügbaren Programmen“, so Andrea Behrendt.
Das offene Portal birgt natürlich das Risiko, dass es manche Gruppen auch für politisch missliebiges Material nutzen könnten. Daher ist es nicht möglich, Interviews selbst hochzuladen, sondern die Dokumente werden zuerst an eine Redaktion geschickt. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass die Seite von Nazis missbraucht wird. „Insgesamt kommt es auf eine differenzierte Perspektive an“, meint Birgit Marzinka. Ein Forum auf der Seite wird es nicht geben. Wenn die Internetseite einmal mit ersten Inhalten gefüllt ist und Multiplikatoren in Berlin geschult sind, will die Globale Medienwerkstatt ihr Projekt auf das Bundesgebiet ausweiten. So ist etwa für das nächste Jahr eine Kooperation mit dem Bund freier Radios geplant.

Zum Zeitzeugenportal: www.zeitzeugengeschichte.de