Experimentierfeld für die Selbstausbeutung

Zwischennutzer polieren das Image der Stadt auf, doch ihre eigene Situation bleibt äußerst prekär

„Berlin ist ein Labor für das Unternehmen Zwischennutzung, Berlin hat Raum“, erklärte Ingeborg Junge-Reyer kürzlich zur Präsentation der Senatsstudie „Urban Pioneers“. Zwar singt nicht nur die Stadt Berlin ein hohes Lied auf die Zwischennutzung und lässt sogar wissenschaftliche Publikationen über das Phänomen erstellen, aber was Zwischennutzung eigentlich ist, dazu gibt es nach wie vor keine eindeutige Definition. Das Wort steht vielmehr für die Idee des Vorübergehenden, Improvisierten, Flexiblen. Einige Zwischennutzungen in Berlin gibt es dabei seit über zehn Jahren, d.h. sie dauern länger an als so manche fest vereinbarte Gewerbenutzung.

Der eher diffuse Begriff, was Zwischennutzung eigentlich ist, ist verbunden mit einer Vorstellung der Zwischennutzer als jung, kreativ, experimentierfreudig und mit einem gewissen Unternehmergeist ausgestattet. Bei den „Raumpionieren“, so nennt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Zwischennutzer, sei in erster Linie eine Gründerlust zu entdecken, so Junge-Reyer. Zwar ist im Zusammenhang mit den „Raumpionieren“ auch von Aneignung die Rede, als politischer Akt ähnlich den Hausbesetzungen lässt sich die Zwischennutzung aber in der Regel nicht ansehen. Denn zumeist gibt es klare vertragliche Vereinbarungen, den jeweiligen Ort zu verlassen, sobald sich ein – besser zahlender – „Dauernutzer“ einstellen sollte. Zwischennutzer verlassen sich darauf, nach Verlust eines Ortes in die nächste Lücke, die die Stadt noch zu bieten hat, springen zu können. Auch Klaus Overmeyer, Co-Autor der von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beauftragten Studie „Urban Pioneers“ bestätigt, die Zwischennutzung sei häufig nicht mehr eine politisch motivierte Handlung, die eine Gegenwelt errichten wolle, sondern die Zwischennutzung sei „in der Gesellschaft angekommen“. Es gebe sehr viele kommerzielle und unternehmerisch motivierte Zwischennutzungen. Untersucht wurden dabei lediglich Aktivitäten auf brachgefallenen Flächen. Das sind zum einen aufgegebene Gewerbegebiete oder Infrastrukturflächen wie etwa alte Bahnanlagen. Im Osten der Stadt entstand eine Vielzahl von Freiflächen durch den Wegzug der Bevölkerung und der damit verbundenen Schließung nicht mehr benötigter kommunaler Einrichtungen wie Kitas, Schulen und Sportflächen. Die Senatsverwaltung sieht außerdem ein enormes Flächenpotenzial bei zukünftig nicht mehr benötigten Friedhöfen. Fast 100 temporäre Nutzungen auf brachgefallenen Flächen wurden für „Urban Pioneers“ aufgenommen. In der Studie nicht eingeschlossen sind reine Gebäudenutzungen, d.h. leerstehende Läden, sonstige Gewerberäume und Wohnungen.

Zwischen Kommerz und Engagement

Die meisten Zwischennutzungen sind nicht eindeutig einer bestimmten Motivation zuzuordnen. Ein Drittel wird als ehrenamtlich eingestuft und 23% als rein kommerziell. Im weiteren Sinne unternehmerisch tätig ist knapp die Hälfte. „Ihnen dient die Zwischennutzung als Sprungbrett für die berufliche Karriere. Besonders junge Menschen, die nach ihrem Studium keine Anstellung finden, nutzen die günstigen Raumangebote der Stadt, um ohne großes Risiko die eigene Berufung auch wirtschaftlich auszuprobieren“, heißt es in „Urban Pioneers“.

Jessica Zeller und Sarah Oßwald, die jetzt im zweiten Jahr den Campingplatz „Tentstation“ in einem alten Freibad in Moabit betreiben, möchten das so nicht bestätigen. Neben Zeltplätzen bieten sie ein kulturelles Programm auf dem Platz an, das sich auch an Anwohner/innen richtet. „Es wäre eine falsche Motivation, mit Zwischennutzung Geld verdienen zu wollen. Wir haben sehr viel Freiraum und können andere Formen des Arbeitens ausprobieren“, sagt Jessica Zeller. Ob es im nächsten Jahr weitergeht, werden sie erst nach Ablauf der Saison erfahren.

Standortmarketing für Mediaspree-Planungen

Das Yaam, eine Mischung aus Club, Sportanlage und Markt an der Spree muss sich seit 13 Jahren mit dem Nichtplanbaren arrangieren. Seit 1994 ist das Yaam dreimal umgezogen und die Zukunft auf der Fläche gegenüber dem Ostbahnhof ist ungewiss, schließlich sollen auf dem Gelände nach Mediaspree-Planungen (siehe Seite 14) drei Bürohochhäuser gebaut werden. Der Nutzungsvertrag wird jeweils nur für ein halbes Jahr vergeben. Das Yaam ist damit auch exemplarisch für andere, später entstandene Zwischennutzungen, die sich laut „Urban Pioneers“ im östlichen Spreeraum konzentrieren. Von der Interessenvertretung Mediaspree werden Strandbars und kulturelle Aktivitäten der Zwischennutzer immer wieder als Standortfaktor beworben (siehe S. 17). Sollten die Planungen für den Spreeraum jemals komplett umgesetzt werden, wird von diesem Standortfaktor allerdings nicht mehr viel übrig bleiben. „Bei den Kapitalinteressen, die der Bezirk unterstützt, ist man gezwungen, sich anzupassen und das Beste daraus zu machen. Es gibt keine Lobby, die Projekte wie das Yaam unterstützt“, sagt Ortwin Rau vom Betreiberverein Kult e.V. Die Zwischennutzung als Dauerzustand erscheint Rau als kontraproduktiv.

Auszubildende und Angestellte bräuchten eine Perspektive, Konzessionen müssten immer wieder neu beantragt werden und viele Förderungen seien von vornherein ausgeschlossen.
Laut „Urban Pioneers“ erhalten 62% der Zwischennutzer öffentliche Förderungen, 42% haben Einnahmen aus privatem Sponsoring, wie etwa der Mellowpark, ein Sportpark für Jugendliche mit BMX-Bahnen und Skaterrampen. Förderung und Sponsoring schließen sich nicht aus. Die Art der öffentlichen Förderung wird nicht spezifiziert, es könnte daher auch gemeint sein, dass ein Verein 1-Euro-Jobber/innen beschäftigen darf. Weit über das Sponsoring hinaus gehen manch kommerzielle Zwischennutzungen. Auf dem Gelände des ehemaligen Stadions der Weltjugend installierte die Firma Nike während der Fußball-WM 2006 für acht Tage einen Sportpark. Durch die Inszenierung dieser Zwischennutzung übernahm Nike eine Ausdrucksform der Jugendkultur zu Werbezwecken. Weniger an einer Szene orientiert, aber nicht minder kommerziell sind Zwischennutzungen wie der Golfplatz auf dem Gleisdreieck, der nun vom Park abgelöst wird.

Ziel: Existenzsicherung

Einige Zwischennutzer haben es auch geschafft, ihrem Projekt eine langfristige Perspektive zu geben. Lange bevor offiziell von Zwischennutzung gesprochen wurde, begannen 1993 Kleingewerbetreibende und Künstler, den Gewerbehof in der Saarbrücker Straße zu bewirtschaften. Einer von ihnen ist Klaus Lemmnitz, heute Vorsitzender der Genossenschaft Gewerbehof Saarbrücker Straße. „Am Anfang gab es gar keine Verträge, nach zwei bis drei Jahren haben wir dann maximal Jahresverträge bekommen“, erzählt Lemmnitz. Als Kaufinteressierte wurden sie zunächst vom Liegenschaftsfonds nicht allzu ernst genommen. Dann mussten in drei Jahren fünf Millionen Euro für Kauf und Sanierung aufgebracht werden. Mittlerweile ist der genossenschaftlich organisierte Gewerbehof eine Art Vorzeigeprojekt im Bezirk geworden. Die ursprüngliche Motivation war es allerdings nie, sich „auszuprobieren“, denn hinter vielen Aktivitäten der frühen 90er Jahre stand die ökonomische Notwendigkeit. Viele betrieben ihr Gewerbe damals nebenberuflich, neben Ausbildung oder Studium. Doch Lemmnitz will die Aktivitäten nicht auf ein rein ökonomisches Interesse beschränkt wissen: „Wir versuchen immer, uns im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich einzubringen und arbeiten mit anderen Projekten und Genossenschaften zusammen.“

Suche nach günstigen Räumen

Zwischennutzungen jenseits der urbanen Brachen gibt es im Prenzlauer Berg und im früheren Bezirk Mitte kaum noch. Auch in Friedrichshain-Kreuzberg hatten die Quartiersmanagements Wrangelkiez und Boxhagener Platz in den vergangenen Jahren noch leer stehende Läden zur temporären Nutzung zu günstigen Konditionen vermittelt. Jedoch ist die Nachfrage nach Gewerberäumen in den jeweiligen Quartieren so stark angestiegen, dass die Vermieter nun problemlos Mieter/innen zu regulären Konditionen finden. Die Zwischennutzer, die Galerien und andere, die Veranstaltungsräume in leeren Läden einrichten, sind derweil weitergezogen – ins nördliche Neukölln, wo die Zwischennutzungsagentur derartige Aktivitäten vermittelt.