Verhängnisvolle Besuche bei Freunden (Telepolis 2009)

Ein Bürgerkriegsflüchtling aus Sierra Leone wird zum „kriminellen Ausländer“ erklärt, weil er Freunde in München besuchte. Die Ausländerbehörde verweigert ihm daher nach zehn Jahren in Deutschland das Bleiberecht und will ihn schon am Dienstag abschieben.

 

Für den 26jährigen Mohammed Baldeh eröffnete sich 2007 mit der Bleiberechtsregelung eine neue Perspektive. Nach zehn Jahren in Deutschland hätte er endlich ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen können. Die Voraussetzungen dafür erfüllt er alle: Er verdient seinen Lebensunterhalt in einem Münchner Restaurant, er spricht gut deutsch und ist sozial integriert. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich bei der Flüchtlingsorganisation „Jugendliche ohne Grenzen“. Doch nun wird ihm zum Verhängnis, dass er sich in der Vergangenheit in Deutschland zu freizügig bewegt hat, nämlich mehrfach von Bitterfeld nach München reiste.

Als der 16jährige alleine nach Deutschland kam, wurde er in eine Sammelunterkunft im Landkreis Bitterfeld in Sachsen-Anhalt eingewiesen. Er musste dort mit drei erwachsenen Männern ein Zimmer teilen, er bekam weder einen Vormund noch psychologische Betreuung aufgrund seiner Kriegstraumata. Als Asylsuchender wäre er im Landkreis Bitterfeld, der nur gut halb so groß ist wie die Stadt Berlin, auf sich alleine gestellt gewesen. Doch wie alle Asylsuchenden durfte er den zugewiesenen Landkreis nehmigung nicht verlassen. Mohammed Baldeh hielt sich nicht an seine vorgeschriebene „Residenzpflicht“, sondern besuchte wiederholt Freunde seiner Familie in München, wo der Minderjährige Rat und Geborgenheit fand. Oft wurde er auf dem Weg von der Polizei kontrolliert und später entsprechend wegen des Verstoßes gegen die Residenzpflicht verurteilt. So kamen in den acht Jahren, die er in Sachsen-Anhalt als Asylsuchender und später mit Duldung lebte, Strafen mit insgesamt 140 Tagessätzen zusammen, Baldeh war damit vorbestraft. Der wiederholte Verstoß gilt im Falle der Residenzpflicht nicht mehr als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftatbestand, was im deutschen Recht einzigartig ist.

Die zuständige Ausländerbehörde lehnte den im März gestellten Bleiberechtsantrag mit Verweis auf diese Vorstrafe ab. Seine weiteren Lebensumstände zog die Behörde dabei nicht in Betracht. „Die Bleiberechtsregelung sieht eindeutig vor, dass Verstöße gegen die Residenzpflicht gegen die Integrationsleistung abgewogen werden“, kritisiert Tobias Klaus vom Bayerischen Flüchtlingsrat dieses Vorgehen. Die Behörde hätte in solches Abwägen verweigert, obwohl die Flüchtlingsräte Sachsen-Anhalt und Bayern sie auf diese Regelung im Bleiberecht angesprochen hätten.

In einem Protestbrief an das sachsen-anhaltinische Innenministerium verweist der Bayerische Flüchtlingsrat außerdem darauf, dass keine Wiederholungsgefahr besteht. Seit einem Jahr darf sich Mohammed Baldeh wegen seiner Arbeit in München aufhalten. Würde er ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten, entfiele die Residenzpflicht ganz, ein weiterer Verstoß wäre also gar nicht möglich.

Der Fall zeigt, dass mit der Residenzpflicht ein Straftatbestand nur für Flüchtlinge geschaffen wurde. „Es ist absoluter Usus, dass die Leute wegen Straftaten gegen Residenzpflicht abgeschoben werden“, sagt Klaus. „Die Problematik der gesamten Bleiberechtsregelung ist vielen Ausländerbehörden nicht bekannt, oder aber sie stehen ihren Klienten eher feindselig gegenüber“. Baldeh könne noch von Glück sagen, dass er sich eine Anwältin leisten kann und in München Kontakt zu Beratungsstellen hat. „Gerade in der Provinz haben die Leute oft keinen Zugang zu Hilfsangeboten“, so Klaus.

Derzeit läuft ein Eilverfahren, um die Abschiebung zu stoppen. Aber auch das Innenministerium könnte noch eingreifen. „Wir werden uns berichten lassen und dann eine Entscheidung treffen“, heißt es aus dem zuständigen Fachreferat.

Würde Mohammed Baldeh wirklich kommende Woche abgeschoben, stünde er in Sierra Leone vor dem Nichts, von seiner Familie fehlt seit zehn Jahren jedes Lebenszeichen.