Neuköllner Esperanto

Als die Rütli-Schule im Jahre 1909 eingeweiht wird, hat sie zunächst keinen richtigen Namen: Sie heißt einfach 31. und 32. Gemeindeschule. Ein kräftiges Bevölkerungswachstum zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlangt den Neubau einer solchen Doppelschule in der Neuköllner Rütlistraße. Bis zu 50 Kinder pressen sich in jedes Klassenzimmer. Nach Geschlechtern getrennt gehen die einen in die Mädchen-, die anderen in die gegenüberliegende Knabenschule. Vaterlandsliebe und Untertanengeist prägen den Erziehungsstil der Kaiserzeit. Bessere Bildung bleibt dem Adel und bürgerlichen Schichten vorbehalten.

Während des Ersten Weltkrieges als Kaserne genutzt, hat die Bildungsanstalt bis 1920 ausgedient, dann aber öffnet sie wieder ihre Pforte, als weltliche Schule ohne Religionsunterricht. Der Kaiser hat längst abgedankt, und Paragraph 149 der Weimarer Verfassung bestimmt, dass Religion zwar weiterhin ordentlliches Lehrfach sei, sieht aber Ausnahmen für „bekenntnisfreie Schulen“ vor. Ein altes Ziel der Arbeiterbewegung, die Trennung von Kirche und Staat. „Evangelisch, katholisch oder jüdisch – diese Frage gab es überhaupt nicht. Wir waren alle gleich“, erinnert sich Herta Prüffert, eine ehemalige Rütli-Schülerin aus den zwanziger Jahren. Wirkliche Demokratie habe man an dieser Lehranstalt gelernt. Die 88-Jährige macht es sich auf ihrem Sofa in ihrer Wohnung im Berliner Westend bequem und meint, wenn ihr Obrigkeitsdenken bis ins hohe Alter fremd geblieben sei, dann hänge das wohl auch mit der Rütli-Schule zusammen und den pädagogischen Freiheiten, die sich die Lehrer dort nehmen durften.

Kein Unterricht nach Schema F

Viele kaisertreue Lehrer verabschieden sich für immer, so dass es Platz gibt für junge reformfreudige Pädagogen, Männer und Frauen, unter ihnen Kommunisten, Sozialisten, Pazifisten. Nach den Jahren des Krieges soll hier eine kritische, offene und friedliebende Generation aufwachsen. Im April 1923 erhält die Schule den amtlichen Segen als staatliche Versuchsschule – eine so genannte Lebensgemeinschaftsschule“ soll sie sein, in der es Freiräume gibt, von denen man andernorts nur träumen kann. Unterricht nach Schema F und starre Stundenpläne fallen weg, stattdessen wird nach einem flexiblen Programm unterrichtet und in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften gelernt, in denen sich die Kinder mit Englisch und Esperanto besschäftigen können. Prügelstrafen werden verboten und geächtet. Das Lernen soll sich nach den Bedürfnissen der Zöglinge richten. Jungen und Mädchen sitzen in der Rütli-Schule auf einer Schulbank und besuchen gemeinsam den Handarbeits- und Werkunterricht. Das kommt schon einer kleinen Revolution gleich.

Einer der jungen Lehrer ist der sozialdemokratische Reformpädagoge Friedrich Weigelt. Er begreift die Schule als Stätte der Toleranz, in der neue Formen des Zusammenlebens von Kindern, Lehrern und Eltern reifen und das Katheder als Hochsitz des Lehrers verschwindet. Statt der Schulbänke gibt es bei Rütli Tische und Stühle, die man so stellen kann, dass sich mit den Tischgruppen Gemeinschaften bilden, die zur Diskussion und – wie selbstverständlich – auch zu gegenseitiger Hilfe einladen, so dass die Versuchung zum Abschreiben entfällt. Auch Zensuren werden abgeschafft, stattdessen gibt es am Ende des Schuljahres einen Bericht für die Elternversammlung, denn Mitbestimmung und Kooperation der Eltern gehören selbstverständlich zum Schulalltag.

Herta Prüffert kann sich heute noch gut daran erinnern, dass Mütter und Väter oft Klassenfahrten an die Ostsee begleitet haben, dass sie halfen, das Schulessen zu kochen und einen Duschraum einzurichten: „Viele hatten zu Hause ja nicht die Möglichkeit, sich wirklich duschen zu können. Und wir – Jungen und Mädchen zusammen – haben dort einmal in der Woche unter der Brause gestanden. Das war links im Keller unten, und da sind wir mit nacktem Po herunter gerutscht!“

Mitten im Neuköllner Arbeitermilieu existiert Mitte der zwanziger Jahre eine fortschrittliche staatliche Gemeinschaftsschule. Dabei wird die politische Haltung der „radikaler eingestellten Eltern durchaus nicht als staatsbejahend“ empfunden, heißt es im Schulprotokollbuch vom 19. Mai 1930. Nach sechs Jahren an der Anstalt im Berliner Südosten können die Kinder an eine Aufbauschule wechseln. Wer sein Abitur ablegen will, scheitert nicht an der sozialen Herkunft, sondern findet seine Chance. Herta Prüfferts Vater zum Beispiel ist Fabrikant, rechnet sich zum reformfreudigen Teil des Bürgertums und hat die Schule für seine Tochter ausfindig gemacht. „Reich und arm, Akademiker- und Arbeiterkinder – sie saßen alle auf einer Bank. Das Pädagogische stand eben im Vordergrund“, erzählt Herta Prüffert, die schon als Sechsjährige jeden Morgen mit ihren beiden Schwestern in die U-Bahn steigt und vom Innsbrucker Platz in Schöneberg eine Stunde bis zum Hermannplatz nach Neukölln fährt. „Wir gingen gern zur Schule. Schulschwänzer kannten wir nicht.“

Die Gruppe um Herbert Baum

Gegenseitiges Vertrauen und starke Bande zwischen Lehrern, Eltern und Schülern gehören zur Philosophie dieser Gemeinschaftsschule. „Wenn ein Schüler die Idee hatte, wir sollten vielleicht draußen zeichnen, dann durften wir gehen“, erinnert sich Prüffert und geht bedächtig zu einer Glasvitrine. Hier bewahrt sie ein paar bunte Puppen auf, deren Bekleidung sie vor fast 80 Jahren im Handarbeitsunterricht an der Rütli-Schule gehäkelt hat. Die Erinnerungsstücke wirken erkennbar in die Jahre gekommen, einer Puppe fehlt sogar der Kopf.

Die Deutschland schwer heimsuchende Weltwirtschaftskrise macht sich ab 1930 auch an der Rütli-Schule bemerkbar. Schulgelder werden ganz gestrichen, Klassen zusammen gelegt, Lehrer entlassen. Es wird so schlimm, dass Eltern und Schüler schließlich in einen Schulstreik treten. Im Januar 1933, kurz bevor Hitler zum Reichskanzler ernannt wird, verliert die Schule ihren Status als Versuchsanstalt – als die Weimarer Republik untergeht, ist es auch um ihre Schulreformen geschehen und all die Projekte, die allein in Berlin für eine moderne Bildungspolitik bürgen – neben der Neuköllner Einrichtung gehört dazu nicht zuletzt auch die Schulfarm auf der Insel Scharfenberg im Tegeler See.

Die Nazis besetzen die Schulbehörde mit NSDAP-Mitgliedern, fackeln nicht lange und zerschlagen im Frühjahr 1933 an der Rütli-Schule, was von deren Dasein noch übrig ist. Sie degradieren Rektoren zu Lehrern, versetzen oder verbannen die Hälfte des Lehrkörpers aus dem Schuldienst, reißen Klassen auseinander. Herta ist zwölf, als sie im März 1933 an eine christliche Gemeindeschule wechseln muss.

„Furchtbar war das. Die wollten uns so hinstellen, als hätten wir bis dahin nichts gelernt.“ Die Rütli-Schüler sind in veränderter Umgebung eingeschüchtert. Dass sie sich im Unterricht melden sollen, bevor sie den Mund aufmachen, das kennen sie nicht. Einige Jahre später widersetzen sich ehemalige Rütli-Schüler entschlossen und todesmutig dem faschistischen Regime. Einige werden Teil des jüdischen Widerstandskreises um Herbert Baum, andere gehörten zur „Rütli-Gruppe“ um Hanno Günther, einem alten Schulfreund von Herta Prüffert, die selbst bei Treffen im Untergrund dabei ist. Doch wird die Gruppe im Jahr 1941 verraten. Herta muss als eine der ersten aufs Polizeirevier, sie hat Glück, bestreitet alle Anschuldigungen und kann unter Auflagen wieder nach Hause gehen. Ihre Freundin Dagmar wird zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt – alle anderen aus der „Rütli-Gruppe“ sterben in Berlin-Plötzensee unter dem Fallbeil des Henkers. Jahrzehnte später beschreibt die Mutter von Hanno Günther die Rütli-Schule in ihrem Lebenslauf als „weltliche Volksschule, die es sich wie wohl keine zweite in Berlin angelegen sein ließ, antifaschistischen Geist in der Jugend zu wecken und zu pflegen.“

Herta Prüffert sitzt wieder auf ihrem Sofa und zeigt auf ein Foto, das während einer Klassenfahrt an die Ostsee Anfang der dreißiger Jahre entstand. Hanno Günther sitzt neben ihr im Sand. Seinen Namen und den der anderen hingerichteten Mitschüler hat sie während unseres Gesprächs wieder und wieder in den Mund genommen. Als müsste sie sich ihrer vergewissern.

Der Text erschien am 21. Januar 2010 in der Wochenzeitung Der Freitag.