Prinzessinnen und Dönerläden

In dem Computerspiel „Bordergames“ erzählen Kreuzberger Jugendliche Geschichten zwischen Alltag und Fantasie. Sie widerlegen dabei auch das Vorurteil, Migranten würden sich in einer Parallelwelt vom Rest der Gesellschaft abkapseln.

In einem Laden im Erdgeschoss des Neuen Kreuzberger Zentrums (NKZ) am Kottbusser Tor hocken mehrere Kinder auf Kissen vor Laptops. In den Fenstern des sonst leerstehenden Raumes steht in großen Buchstaben „Bordergames“, gelbschwarze Absperrbänder umrahmen die Schrift. Einer der Jungen im Laden versucht, auf dem Bildschirm eine Figur durch das labyrinthartige Kottbusser Tor zu manövrieren. Der virtuelle Raum zwischen den Baumassen des Neuen Kreuzberger Zentrums wirkt merkwürdig aufgeräumt, denn noch fehlen die Menschen in der ansonsten sehr realistischen Szenerie. Nur eine Prinzessin hinter sieben Bergen sitzt plötzlich auf dem Asphalt – die Zeichnung eines kleinen Mädchens, die in die urbane Umgebung montiert wurde.

Das Kottbusser Tor ist der Hintergrund für das Computerspiel „Bordergames Kreuzberg“. Zwei Wochen lang war der Laden im NKZ für die Kinder und Jugendlichen der Umgebung geöffnet. „Bastel dein eigenes Computerspiel“ stand auf der Einladung. Täglich von 15 bis 18 Uhr entwickelten Mitarbeiter der Berliner Architektengruppe „Raumlabor“ und der spanischen Künstlergruppe „La Fiambrera Obrera“ mit den Kindern Geschichten, die sich um ihren Kreuzberger Alltag drehten.
Die Idee zu „Bordergames“, stammt von „La Fiambrera Obrera“. Der Gruppe ging es darum, ein Computerspiel zu entwerfen, in dem Migrantinnen und Migranten ihre Lebenserfahrungen darstellen können. Die erste Version entstand folglich zusammen mit marokkanischen Jugendlichen in Madrid. Parallel dazu wollten die Künstler in Berlin türkischstämmige Jugendliche erreichen. Allerdings meldeten sich zu dem Workshop mehrheitlich zehn- bis zwölfjährige Kinder, was nicht ganz dem ursprünglichen Konzept entsprach. „Wir haben hier in Kreuzberg eine Situation vorgefunden, in der aufgrund der Spielplatznähe fast alle Teilnehmer unter zwölf sind. Ihr Engagement mitzuarbeiten, war sehr unterschiedlich und unvorhersehbar“, beschreibt Lucy Begg von Raumlabor die Gruppe.
Die Software für das Computerspiel haben „La Fiambrera Obrera“ mitgebracht und damit vor Beginn des Workshops die Geometrie des Kottbusser Tors erstellt. Damit es zum authentischen „Kotti“ wurde, machten die Kinder Fotos der Umgebung, bearbeiteten sie am PC und montierten sie dann in das Modell.

Sehnsucht nach Harmonie
In der vorläufigen Variante bleibt man vor einer Garage voll mit Kisten und Gerümpel stehen. „Hier wohnen die Penner“, erklärt einer der Jungen. Die Obdachlosen gehören genauso zum Szenario wie Döner-Verkäufer, Bäcker und andere Ladeninhaber im Erdgeschoss des NKZ. Auch Anwohner, Geschäftsleute und Passanten haben die Kinder fotografiert, sofern diese einverstanden waren. Mit einigen wird man im Spiel in Dialog treten können, andere werden einfach den virtuellen Raum beleben.
Auffällig ist, dass sich die Spiel-ideen der Jungen eher um Fußball drehen, während die Mädchen lieber Märchen erzählen. So haben Yeliz und Sari eine Geschichte über eine Maus und einen Löwen geschrieben, die in den dunklen Durchgängen des Neuen Kreuzberger Zentrums wohnen. Die Maus vergnügt sich damit, Geige zu spielen, der Löwe ist von ihrem Gefidel genervt. Die Geschichte endet mit einer Hochzeit. „Die Geschichte ist eine Art Kommentar über das Zusammenleben der deutschen und der türkischen Community hier“, meint Jordi Claramonte von „La Fiambrera Obrera“. Das Mädchen Nuray möchte von ihren vier besten Freundinnen erzählen, der zehnjährige Achmed fantasiert hingegen von wilden Schießereien. Die schriftlichen Dialoge wimmeln von Rechtschreibfehlern. „Es ist sehr schwer zu schreiben“, beendet Nuray ihre Geschichte.
In der spanischen Variante beginnt das Spiel damit, dass ein marokkanischer Jugendlicher die U-Bahnstation Lavapies verlässt. Lavapies ist der Anlaufpunkt für die meisten Migranten in Madrid. Der Jugendliche hat keine gültigen Aufenthaltspapiere, keine Arbeit, keine Unterkunft. Er muss sehen, wie er sein Überleben in der Fremde organisiert. Vor der U-Bahn stehen zwei Polizisten, die ihn nach seinen Papieren fragen. Es gibt zwei mögliche Antworten: „Ich habe keine Papiere, ich bin doch noch nicht volljährig.“ Oder „Worum es auch immer geht, ich habe damit nichts zu tun.“ Die zweite Antwort bringt den Jungen direkt auf die Polizeiwache, und das Spiel ist beendet. Schafft er es an den Polizisten vorbei, trifft er auf andere Akteure: einen Sozialarbeiter, potenzielle Arbeitgeber. Immer muss er jedoch aufpassen, seine wahre Identität nicht preiszugeben, da sonst Gefahr besteht, dass ihn jemand bei der Polizei verpfeift und er zurück nach Marokko gebracht wird.

Netzwerk von Spielvarianten
In Madrid leben viele Jugendliche, die auf inoffiziellem Weg nach Spanien gekommen sind, mit dem Boot über die Meerenge von Gibraltar oder unter einem Lastwagen versteckt, um nicht an der Grenze abgewiesen zu werden. In Lavapies arbeiteten „La Fiambrera Obrera“ zusammen mit der Organisation Ibn Batuta, die dort Migranten betreut. Als Anreiz bei dem Projekt mitzumachen, zahlte Ibn Batuta den Teilnehmern ein Taschengeld. „Es war für sie wie ein kleiner Job“, erinnert sich David Rodriguez von „Fiambrera Obrera“, „deswegen waren sie auch viel konzentrierter bei der Sache.“
Die Kinder, die sich normalerweise auf dem Spielplatz vor dem NKZ tummeln, würde man mit Sicherheit als sozial Benachteiligte bezeichnen, die Problematik, keine gültigen Papiere zu haben, ist ihnen jedoch unbekannt. Die Situation der marokkanischen Einwanderer in Madrid und der türkischen Einwanderer in Berlin ist nicht direkt vergleichbar, in Berlin ist man mindestens eine Generation weiter. David Rodriguez hat nicht den Eindruck, dass die Kinder einer abgeschlossenen Gemeinschaft angehören, wie man es den türkischstämmigen Bewohnern Kreuzbergs gerne unterstellt. Die Kinder am Kotti zeigen jedenfalls keine Berührungsängste, wenn es darum geht, deutsche oder türkische Nachbarn in das Computerspiel einzubeziehen. Im Laden selbst herrscht ein babylonisches Sprachgewirr aus Türkisch, Deutsch, Spanisch und Englisch. Doch irgendwie klappt die Verständigung immer.
„Am Anfang steht das Kottbusser Tor als Flipper“, erklärt Jordi Claramonte den Spielaufbau. Auf dem Flipper sind mehrere Döner-Kebab-Symbole verteilt. Wer mit dem Flipperball gegen einen solchen Dönerstand stößt, betritt anschließend eine neue Spielszene. Die Szenen sind, auch nachdem der Workshop am Kotti vorüber ist, noch im Entstehen, doch in einigen Wochen soll man Bordergames Kreuzberg genauso wie die spanische Variante im Internet herunterladen können.
Damit ist das Projekt jedoch nicht abgeschlossen. Da es sich um eine Open-Source-Software handelt, können nachträglich Spiel-szenen eingefügt werden. „Wir wollen die Geschichten der Kinder mit Geschichten von Organisationen wie Plataforma oder Kanak Attak mischen“, sagt Jordi Claramonte. Kanak Attak existiert in mehreren deutschen Städten und kämpft gegen herkunftsbezogene rassistische Zuschreibungen und Benachteiligung. Die Migrantenorganisation Plataforma setzt sich für bessere Lebensbedingungen von Flüchtlingen ein und kritisiert die Abschiebepraxis. Beide Organisationen könnten das Spiel um die Geschichten neu Eingewanderter bereichern. Diese handeln etwa davon, als dunkelhäutiger Mensch unter den Generalverdacht gestellt zu werden, mit Drogen zu handeln.
Bordergames Kreuzberg soll nicht die letzte Version des Computerspiels sein. Teilnehmer des Workshops in Madrid geben ihr Wissen in anderen spanischen Städten weiter. „La Fiambrera Obrera“ verhandelt zur Zeit mit Organisationen in Wien, Athen und Turin, dort sollen ebenfalls Workshops angeboten werden. Am Ende stünde ein Netzwerk von Spielvarianten aus der ganzen Welt, so dass jeder spielend die Realität von Einwanderern in anderen Teilen der Welt kennen lernen kann.
David Rodriguez betont, dass bei Bordergames nicht alleine das Ergebnis entscheidend ist. Das Ziel ist erreicht, wenn die Angesprochenen ihre Ideen entwickeln, sich vernetzen und beginnen, sich ihre Umgebung anzueignen. Jordi Claramonte freut sich, dass sich in Berlin eine Gruppe gefunden hat, die selbstständig an dem Computerspiel weiterarbeiten möchte.

Das Spiel im Internet: www.bordergames.org