Ganz natürlich (fluter 2008)

Natur, denken die meisten von uns, kann man bei einem Waldspaziergang erleben. Oder wenn man im Sommer auf einer Wiese liegt und sich auf die verschiedenen Insekten konzentriert, die darin herumkrabbeln. Natur, das sind die Pflanzen und Tiere, ihr Zusammenspiel. Und auch wenn wir Menschen heute als größte Gefahr für die Natur gelten, gehören wir doch irgendwie dazu. Wir brauchen wie alle Tiere Nahrung und Luft zum Atmen, wir werden krank, wir altern und wir sterben. Alles ganz natürliche Prozesse.

Damit wird aber schon deutlich, welche unterschiedlichen Bedeutungen der Begriff „Natur“ haben kann. Wenn wir sagen, wir fahren „raus in die Natur“, sind es die Pflanzen und Tiere außerhalb der von Menschen gebauten, „künstlichen“ Stadt. Sprechen wir von unserer körperlichen Natur, dann geht es um biologische Gesetze, die für uns genauso wie für andere Lebewesen gelten. Natur kann man zum einen sehen und anfassen, zum anderen ist sie eine Art Funktionsweise der Welt.

Was sich von selbst wandelt

Was wir meinen, wenn wir von Natur sprechen, kommt immer auf den Zusammenhang an. Die Bedeutung des Wortes „Natur“ unterliegt außerdem einem stetigen Wandel, der durch die jeweilige Kultur und durch wissenschaftliche Erkenntnisse beeinflusst wird. So würden sich ein Arzt aus dem Mittelalter und ein Arzt der Neuzeit nicht verstehen, wenn sie über die menschliche Natur reden. Der eine würde nämlich von Körpersäften, der andere von Organen sprechen.

Für den antiken Philosophen Aristoteles war das Natürliche das, was selbst Form gewinnt und sich von selbst wandelt. Demgegenüber stand das Künstliche, durch den Menschen Geformte. Dieser Definition würden die meisten noch heute zustimmen. Bei genauerer Betrachtung sind Natürliches und Künstliches gar nicht mehr so leicht zu trennen. Sind geklonte Haustiere, gentechnisch veränderte Pflanzen oder im Reagenzglas gezeugte Babys eher Natur oder eher Technik? Wie sieht es mit technischen Veränderungen des menschlichen Körpers aus, mit Prothesen oder Herzschrittmachern?

Durch alle Zeiten haben Menschen in die Natur eingegriffen, die ersten Pflanzenzüchtungen durch Menschen liegen etwa 10.000 Jahre zurück. Damals wusste man nicht das Geringste über Vererbungsregeln. Erst 1866 veröffentlichte Gregor Mendel die Ergebnisse seiner berühmten Erbsenversuche, die als Grundlage der Genetik gelten. Seitdem 1944 die DNA als Erbsubstanz identifiziert wurde, ging die Entwicklung rasant weiter. Seit den 1980er-Jahren sind Methoden bekannt, wie sich Pflanzen gentechnisch verändern lassen. Befürworter/innen argumentieren nun, dass sich auf diese Art lediglich das Züchtungsergebnis genauer steuern ließe.

Das ist einerseits richtig, andererseits kommt es nun auch zu Kreuzungen von Arten, die sich auf natürliche Art und Weise nicht kreuzen ließen, zum Beispiel Mais mit dem Bodenbakterium Bacillus thuringiensis. Das Ergebnis ist der so genannte Bt-Mais, der ein eigenes Insektengift erzeugt. Auch gentechnisch veränderte Arten verhalten sich wiederum wie „natürliche“, indem sie sich mit wilden Verwandten kreuzen. Hierin liegt einer der großen Kritikpunkte an der Gentechnik. Sie sei nicht eingrenzbar, sondern verändere über kurz oder lang die gesamte Umwelt – mit noch nicht absehbaren Folgen.

Der Code wird entdeckt

Natürlichkeit wird oft als Maßstab dafür herangezogen, was ethisch vertretbar ist, dahinter steckt die Vorstellung, dass sich die Natur von sich aus in einem optimalen Gleichgewicht befindet. In der Bewertung neuer Technologien, insbesondere der Gentechnik, geht es aber weniger um Natürlichkeit als um die Frage nach dem Risiko: Welche Folgen hat der Verzehr gentechnisch veränderter Nahrung für Menschen und Tiere und welche Folgen hätten die manipulierten Arten für das jeweilige Ökosystem? Das wichtigste Argument ist dabei die Absicherung von Lebensgrundlagen.

Die gezielte Veränderung von Organismen macht bisher nur einen kleinen Teil der genetischen Wissenschaft aus, ihre Hauptaufgabe ist eine neue Kartierung der Welt. Im 18. Jahrhundert, zur Zeit der großen Entdeckungsreisen, suchten Botaniker/innen neue Pflanzen- und Tierarten, gaben ihnen Namen und ordneten sie Familien und Gattungen zu. Heute beschreiben Biologen/innen nicht mehr minutiös das Äußere, sondern suchen nach dem genetischen Code der Arten. Das menschliche Genom gilt als komplett entschlüsselt. Genetische Ursachen für Krankheiten oder für die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten stehen heute im Mittelpunkt der Forschung. Dies beeinflusst aber auch unsere Sichtweise auf den Körper. Die Vererbungswissenschaft hat beispielsweise zu einer anhaltenden Diskussion über den Anteil von Erbanlagen und Umwelteinflüssen bei der Entwicklung der Persönlichkeit geführt.

Für unseren Naturbegriff bedeutet das: Er wird noch vielfältiger – genauso wie die menschliche Kultur. Daher sollten wir uns immer fragen, welche Natur wir eigentlich meinen, wenn wir mit ihr begründen wollen, was gut und richtig ist.